Neues aus der Wissenschaft

15.05.2022 | Erhöhte Sterblichkeit bei Personen mit Geschlechtsinkongruenz (Transgender)? Benötigen Trans-Frauen Progesteron?

Sterblichkeit bei Personen mit Geschlechtsinkongruenz
In einer retrospektiven Kohortenstudie an erwachsenen Transgendern konnte belegt werden, dass die Sterblichkeit bei Transgendern (Geschlechtsinkongruenz) nach einer angleichenden Hormontherapie erhöht ist (de Blok et al. Mortality trends over five decades in adult transgender people receiving hormone treatment: a report from the Amsterdam cohort of gender dysphoria.  Lancet Diabetes Endocrinol. 2021; 9: 663-670). Dabei wurden Daten von transsexuellen Personen zwischen 1972 und 2018 in den Niederlanden gesammelt (ausschließlich Erwachsene mit durchgehender Hormontherapie und ohne Pubertätsblocker). Fast 3000 Trans-Frauen und über 1600 Trans-Männer wurden in die Studie eingeschlossen und mit Cis-Frauen bzw. Cis-Männern der niederländischen Population verglichen. Die Sterblichkeit bei Trans-Frauen war in Bezug auf kardiovaskuläre Ereignisse, Lungen-Ca, HIV-assoziierte Erkrankungen und Suizide erhöht. Bei den Trans-Männern lag die Sterblichkeit ebenfalls höher. Allerdings stellte hier eine nicht-natürliche Todesursache den Hauptgrund dar. Es konnte kein sinkendes Sterblichkeitsrisiko bei beiden Patient*innengruppen über 5 Dekaden beobachtet werden.
Zusammenfassend zeigten die Autoren, dass - unabhängig von der Behandlungsart - die Sterblichkeit bei Transgendern erhöht ist. Sie gehen allerdings nicht davon aus, dass dies durch eine spezifische Hormontherapie verursacht wird, sondern vielmehr durch Lifestyle-Faktoren (Nikotin, Alkohol, Adipositas, Drogen …) sowie seltener erfolgende Vorsorgeuntersuchungen und fordern eine engmaschige ärztliche Kontrolle, psychologische Begleitung und ggf. Therapie von Komorbiditäten und Lifestyle-Faktoren.

Trans-Frauen und Progesteron
Obwohl die Endocrine Society bereits 2017 empfohlen hat, eine angleichende Hormontherapie bei Transgendern (Geschlechtsinkongruenz) den Cis-Frauen gleichzusetzten, ist weiterhin die Östrogengabe in Kombination mit einer antiandrogenen Therapie (z.B. Cyproteronacetat bzw. Spironolakton) der häufigste Standard.  Schon 2019 wurden folgende Hypothesen bezüglich einer zusätzlichen Progesterongabe aufgestellt (Prior JC. Progesterone is important for transgender women's therapy - applying evidence for the benefits of progesterone in ciswomen. J. Clin. Endocrinol. Metab. 2019; 104: 1181-1186):

  1. Durch Hemmung der 5-alpha Reduktase wird weniger Testosteron in DHT umgewandelt. Dadurch kommt es zu einer schnelleren Feminisierung bei gleichzeitiger negativer Rückkopplung auf das LH und somit zusätzlicher verminderter Testosteron Produktion.
  2. Durch das Progesteron soll das Brustwachstum beschleunigt werden.
  3. Das Progesteron hat einen positiven Effekt auf den Knochenstoffwechsel, in dem es über spezifische Progesteron-Rezeptoren die Osteoblasten-Zellaktivierung und auch die Anzahl der Osteoblasten erhöht.
  4. Progesteron verbessert signifikant den Schlafrhythmus sowie die Schlaftiefe und hat somit einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden der Patientinnen.
  5. Progesteron könnte evtl. einen positiven Einfluss auf das erhöhte Risiko von Myokardinfarkten und thromboischämischen Attacken unter einer Östrogen-Monotherapie bei Transgendern haben. Ob es das Brustkrebsrisiko reduziert, ist derzeit unklar. Kohortenstudien zeigten Hinweise auf einen möglichen positiven Effekt von bioidentischem Progesteron.

Auch wenn die genannte Publikation eine zusätzliche Therapie mit Progesteron präferiert, sollte es eine individuelle Entscheidung bleiben, ob diese nach ausführlicher Aufklärung kontinuierlich oder zyklisch verabreicht werden kann. Die Daten erlauben zum jetzigen Zeitpunkt keine deutliche Empfehlung. Das sollte im Aufklärungsgespräch erörtert werden. Von den im Jahr 2021 etwa 180 in unserer Praxis betreuten Trans-Frauen wünschte ca. 1/3 eine Progesteron-Therapie. Diese beendeten ungefähr der Hälfte wieder, da kein positiver Effekt zu erkennen war. Andere wiederum äußerten ein stärkeres Brustwachstum, ausgeglichenes Schlafverhalten und einen psychischen Benefit und wünschten eine Fortführung dieser Therapie.

Prof. Dr. med. Christoph Dorn