Neues aus der Wissenschaft

01.06.2021 | Neue Begutachtungsanleitung „Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualität“

Seit 2020/2021 existiert eine neue Begutachtungsanleitung, Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes nach § 282 SBG V, welche für die medizinischen Dienste, die Krankenkassen und deren Verbände verbindlich ist. Diese Überarbeitung und Aktualisierung für „geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualität“ des MDS vom 19.05.2009 war dringend notwendig, da neue wissenschaftliche Erkenntnisse in diesem Bereich vorlagen und veröffentlicht wurden (z.B. die AWMF-Leitlinie zu „Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung“ von Oktober 2018).
Die neue MDK-Richtlinie verbessert die Situation der behandelnden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten deutlich, da sie seitdem die alleinige Begutachtung durchführen können. In den neuen Richtlinien zeigt sich eine 6-Monatsfrist statt der alten festgelegten Fristenregelung von 18 Monaten. Die Diagnose der Geschlechtsinkongruenz stellt sich wie folgt dar:

  1. Die Transsexualität liegt mindestens zwei Jahr vor
  2. Es sollte nicht das Symptom einer anderen psychiatrischen Erkrankung sein.
  3. Ein Zusammenhang mit geschlechtschromosomalen Anomalien bzw. genetischen oder intersexuellen Zuständen muss ausgeschlossen sein.
  4. Es besteht kein Transsexualismus bei non-binärer Geschlechtsidentität.

Die psychiatrische/psychotherapeutische Behandlung beinhaltet eine Indikation für geschlechtsangleichende Maßnahmen nur als alleinige Indikationsstellung und nicht mehr als Zweitsicht. Eine Kurzzeittherapie von 12 Sitzungen à 50 Min. in sechs Monaten sollte vorliegen. Bei genitalangleichenden Operationen sollte eine 12-monatige Alltagserfahrung stattgefunden haben. Andere geschlechtsangleichende Maßnahmen (z.B. Hormonbehandlung oder Mastektomie) können auch zu einem früheren Zeitpunkt erfolgen. Bei einer gegengeschlechtlichen oder angleichenden Hormonbehandlung sollte zuvor eine zweijährige transsexuelle Identität vorliegen und ein umfangreiches Screening auf etwaige Risikofaktoren sowie eine Indikationsstellung durch den entsprechenden Endokrinologen stattgefunden haben. Bei einer Mastektomie muss die transsexuelle Identität mindestens zwei Jahre bestehen. Es sollte eine psychiatrische oder psychotherapeutische Indikationsstellung sowie die Indikation des behandelnden Chirurgen vorliegen.
Die Epilationsbehandlung sowie Nadel- und Laserepilation erfolgen nur nach Gutachten. Die Hormonbehandlung muss nicht mehr zwingend nachgewiesen werden. Eine Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie kann ärztlich verordnet werden, zugelassene Stimm-, Sprech- und Sprachtherapeuten werden eingebunden. Eine Mammaaugmentation im Falle der Transsexualität Trans-Frau kann nur bei unzureichendem Brustwachstum mit mindestens Körbchengröße A oder mindestens zwei Jahren Östrogentherapie übernommen werden.

Insgesamt scheinen die Richtlinien des MDK zu einer Erleichterung zu führen, wurden allerdings von zahlreichen wissenschaftlichen Fachgesellschaften (u.a. Gesellschaft für Sexualwissenschaften, Deutsche Gesellschaft für medizinische Psychologie, Deutsche Gesellschaft für psychosomatische Medizin, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde und weitere) kritisiert.
Kritisiert wird u. a., dass sich die Richtlinie auf die internationale Krankheitsklassifikation der WHO aus dem Jahre 1992 (ICD 10) beruft, die nicht mehr dem anerkannten Stand der medizinischen Kenntnis entspricht. Die neuen begründeten S3-Leitlinien (s.o.) orientieren sich bereits an der Neufassung der ICD 11 sowie weiteren internationalen Behandlungsstandards und Klassifikationen. Ein weiterer Kritikpunkt lag in der psychotherapeutischen Behandlung von mindestens sechs Monaten Dauer mit einem Umfang von mindestens 12 Sitzungen, was als grundsätzliche Forderung weder mit den wissenschaftlichen Behandlungsleitlinien noch mit den Psychotherapie-Richtlinien vereinbar ist. Zusätzlich widerspricht es dem Wirtschaftlichkeitsgebot des Sozialgesetzes nach § 12 SGB V.
Aufgrund dieser und zahlreicher anderer Kritikpunkte fordern die Vorstände der Fachgesellschaften, die GKV-Richtlinien zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen unter Einbeziehung von ExpertInnen sowie betroffenen Verbänden zu überarbeiten.

Prof. Dr. med. Christoph Dorn